Künstlerin des Monats Juli 2024: Anita Rée

Foto privat: Kunsthalle Hamburg 2017

ANITA REÉ – Die Meisterin, die keine sein durfte

Anita Rée war ein Star der Malerei. Doch in der NS-Zeit wurde ihre Kunst als »entartet« gebrandmarkt, und sie schließlich bis zum Suizid drangsaliert, ihr Name verschwand aus dem Kunstkanon. Wir wollen sie hier in dieser Rubrik wieder zum Leben erwecken. Mit einem gekürzten Artikel aus dem Spiegel, der unter diesem Link hier auch anzuhören ist. Der Text ist von Ulrike Knöfel vom 08.07.2024 • aus SPIEGEL Geschichte 1/2024

Obwohl der Erste Weltkrieg noch andauerte, lud man im November 1917 in Hamburg zu einem kulturell und sicher auch gesellschaftlich herausragenden Ereignis. In der pompösen Kunsthalle nahe der Alster war Malerei aus Privatbesitz zu sehen, darunter Gemälde von van Gogh und Picasso. Nur die »neueste Richtung« wurde gezeigt, die Avantgarde der Kunstszene. In einem der Säle strahlte ein ortsansässiges Talent besonders hell: die Malerin Anita Rée. Damals war sie Anfang dreißig und für einen Rezensenten eine der »starken Hoffnungen der jungen Hamburger Generation«.

Es blieb nicht bei der Hoffnung: Anita Rée erfüllte jahrelang alle Erwartungen. Sie erfand in ihren Bildern ihre eigene Moderne, noch figurativ und ihrer Zeit doch voraus, oft nüchtern, manchmal fast surreal und immer berührend. Dann bekam sie, die Tochter eines jüdischen Vaters, den wachsenden Antisemitismus zu spüren . In einem Brief Anfang Dezember 1933 beklagte sie ihre »Einsamkeit in dieser dem Wahnsinn verfallenen Welt«, fragte, warum man an deren Grausamkeiten zugrunde gehen solle. Am 12. Dezember 1933 brachte sie sich mit 48 Jahren in Kampen auf Sylt mit einer Überdosis Schlafmittel um.

Nach ihrem Tod geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Erst 1986 widmete ihr eine Kunsthistorikerin eine Doktorarbeit und ein kleineres Hamburger Museum bald darauf eine Schau. 2017 wurde Rée endlich auch in einer großen Ausstellung der Hamburger Kunsthalle geehrt. Sogar Romane über ihr Leben sind erschienen. Aber bis heute ist ihr Ruhm nicht annähernd so groß, wie sie es verdient hätte.

Der kunsthistorische Kanon ist bis heute unvollständig

Wie so viele wurde sie zuerst von den Nazis und in der Folge auch von den Kunstexperten der Nachkriegszeit aus dem kulturellen Gedächtnis gestrichen. Die Nationalsozialisten wollten bestimmen, wer »deutsch« sein sollte und was angeblich »deutsche« Kunst darstellen sollte. Für Werke, die nicht ins Raster fielen, wählte man den aus der Rassentheorie entliehenen Begriff »entartet«. Jüdische Künstlerinnen und Künstler wurden drangsaliert, verfolgt, ermordet. Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Kubismus und andere moderne Richtungen wurden verfemt.

Das wirkt bis heute nach. Der kunsthistorische Kanon ist unvollständig. Viele Künstlerinnen und Künstler fehlen mit ihren Interpretationen der Bildhauerei, der Malerei. Unter ihnen ist auch Anita Rée.

Innerhalb der Avantgarde ging sie ihren eigenen faszinierenden Weg. Deutlich wird das in jedem ihrer Werke, auch und gerade in den Selbstporträts. Eines malte sie um 1911, sie war Mitte zwanzig. Der Bildausschnitt ist eng, sie zeigt dem Betrachter ihr Gesicht aus der Nähe. Umso intensiver ist die Wirkung ihres gleichermaßen skeptischen, melancholischen wie durchdringenden Blicks, der wie herangezoomt wirkt. Diese Bestandsaufnahme des Menschlichen ist zeitlos, sie könnte in die Antike so gut wie ins 21. Jahrhundert passen…

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Das NS-Regime entschied sich gegen viele Richtungen der Moderne, ließ die Bilder und Statuen aus den Museen entfernen. Eine Auswahl von 650 Werken wurde in der Münchner Schau »Entartete Kunst« verhöhnt, später tourte eine gleichnamige Wanderausstellung durchs Land. Viele weitere beschlagnahmte Werke wurden im internationalen Kunsthandel von den Nazis zu Geld gemacht. Ebenfalls in München, in seinem neuen »Haus der Deutschen Kunst«, ließ Hitler jedes Jahr solche Werke auffahren, die seinem Geschmack entsprachen. In diesen »Großen Deutschen Kunstausstellungen« wurde die ästhetische Leitlinie des Reichs sichtbar – eine biedere bis kitschige Beschwörung von deutscher Erde, Mutterglück, Soldatentum.

Nach dem Ende des Nationalsozialismus, 1945, folgte dann der große Bruch mit dieser Ästhetik der Diktatur. Zumindest erweckte die Kunstwelt diesen Eindruck lange Zeit erfolgreich. Viele jüngere Maler entdeckten die Abstraktion wieder, der Neoexpressionismus eines Georg Baselitz oder Markus Lüpertz wurde zur wichtigen Strömung in Deutschland. Zugleich beschwor man jene Moderne, wie es sie vor 1933 gegeben hatte. Allerdings griff man dabei vor allem auf Leute wie Nolde zurück und machte zugleich einen weiten Bogen um jene, die ausgestoßen, verfolgt und ermordet worden waren. Auffällig ist ebenso der Umgang mit Frauen: Künstlerinnen galten in der Nachkriegszeit eher noch weniger als in den Zwanzigerjahren.